Lieber Hugo…

Die Fetten Jahre des Schweizer Radsports und der größte Wettkampf, der nie stattfand…

08 June 2022

Fausto Coppis Giro-Tour-Double von 1949 war der Höhepunkt seiner Karriere, wenn nicht des Radsports insgesamt. Beim Giro definierte er den Sport komplett neu. Die Etappe von Cuneo nach Pinerolo über vier Alpengipfel war der schwerste Tag auf dem Rad in der Geschichte des Sports gewesen. Fausto hatte sich allen Spielregeln (und den Gesetzen der Logik) widersetzt, indem er 192 Kilometer vom dem Ziel angriff — und seine Rivalen sahen ihn nicht wieder. Bei der Tour fuhr er Fiorenzo Magni im Maillot Jaune mit 32 Minuten Rückstand hinterher, als es in die Pyrenäen ging. Magni – und alle anderen – zu distanzieren, war eine übermenschliche Leistung. In den Bergen war er unerreichbar, und im Zeitfahren nach Nancy fuhr er sieben Minuten auf seine Nemesis namens Gino Bartali heraus. Beim Giro 1950 sollten die zwei Bannerträger des italienischen Radsports ein weiteres Mal Hammer und Amboss sein. Coppi bewies seine Form mit Siegen bei Paris-Roubaix und dem Flèche Wallonne, während Bartali bei Mailand–San Remo nicht zu halten war. Ring frei…

Learco Guerra, der Sieger des Giro 1934, besaß eine kleine Fahrradfabrik. Viel Geld hatte er nicht, doch er wusste um den Wert des Giro als Werbeplattform. Und so suchte er ein billiges Team zur Unterstützung des Franzosen Marcel Dupont zusammen. Der war bei der Tour des Vorjahres Fünfter geworden, allerdings fast 40 Minuten hinter Coppi. Niemand nahm ihn als Herausforderer ernst, und im Rennen ging er sang- und klanglos unter. Doch einer seiner Gregari aus dem Team, ein Schweizer, tanzte aus der Reihe und beeinflusste den Lauf des Radsports.

Hugo Koblet aus Zürich hatte als Sechstage- und Verfolgungsfahrer für Aufsehen gesorgt, doch seine Karriere auf der Straße kam nicht so recht in Gang. Er hatte Talent, was Etappensiege bei der Tour de Romandie und der Tour de Suisse bewiesen, und er saß überaus elegant auf dem Rad. Doch mit gerade einmal 25 Jahren hatte er noch keine große Rundfahrt absolviert, und die vorherrschende Meinung war, dass es ihm an Cleverness fehlte, um gegen die Besten anzutreten. Koblet war groß, blond und herzzerreißend schön – das Fleisch gewordene Gegenbild zum knorrigen Rundfahrer. Er hatte dem Team, das Bartalis Namen trug, seine Dienste angetragen, doch Gino war nicht interessiert. Aufgrund von Verletzungen fehlten ihm viele Rennkilometer, und man unterstellte ihm, nicht wirklich leidensfähig zu sein. Koblet schien immer in sich zu ruhen, und er strahlte eine gewisse Aura aus. Bartali fand, dass er einfach zu anders war, und überhaupt verkaufte er seine Fahrräder nicht in die Schweiz. So wie er es sah, gab es genug italienische Fahrer, die ebenso gut oder besser waren; ihn zu engagieren würde also keinen Gewinn bringen. Oder doch?

Von der Zurückweisung verletzt, schickte sich Koblet an, ihn in der Woche vor dem Giro eines besseren zu belehren. Bei der Tour de Romandie war er der Stärkste gewesen, und wenn er nicht am letzten Tag einen Defekt gehabt hätte, wäre ihm der Sieg wohl nicht zu nehmen gewesen. Der Beweis war erbracht, dass er sich endlich ganz auf die Straße konzentrieren konnte, aber dennoch – die Romandie war die Romandie, aber der Giro war etwas ganz anderes.

Die sechste Etappe der Corsa Rosa führte über 220 Kilometer von Turin nach Locarno und kreuzte die Schweizer Grenze. Wie immer sprangen Gruppen weg und wurden wieder eingeholt, und wie immer konnten die Schlusslichter im Klassement ihre 15 Minuten Ruhm genießen. Doch als sich das Peloton dem Lago Maggiore näherte, ging Koblet in die Offensive. Ohne großen Widerstand ließ man ihn ziehen, doch dann nutze er seine Fertigkeiten als Zeitfahrer und fuhr als Solist zum Etappensieg. Das hatte niemand erwartet, und ganz sicher rechnete keiner damit, dass es Koblet zwei Tage später auf der Etappe nach Vicenza noch einmal probierte. Mit dem Unterschied, dass das Feld diesmal alles versuchte, um ihn zurückzuholen – doch vergeblich. Als sich der Staub gelegt hatte, streifte sich Koblet, der sanfte Riese aus der Züricher Backstube, das Maglia Rosa des Giro d’Italia über.

Ob talentiert oder nicht – für Hugo Koblet war es die erste große Rundfahrt. Es wurde erwartet, dass er an den Bergen scheitern würde, und dann würden die üblichen (italienischen) Verdächtigen den Giro-Sieg unter sich ausmachen. Der Sieger durfte sich im Jubiläumsjahr über eine Audienz beim Papst freuen, und es würde entweder Fausto Coppi sein oder „der Mönch“ Gino Bartali. So sah jedenfalls die Theorie aus, doch dann lief das Rennen ganz anders. Coppi stürzte und musste aussteigen, und auch wenn Bartalis Koalition der Willigen alles versuchte, ließ sich der schneidige junge Schweizer nicht mehr einfangen. Die italienischen Radsportfans betrieben Nabelschau, als Koblet über die Dolomiten schwebte und als Sieger in den Vatikan geschlendert kam. Er war der erste Schweizer, der eine große Landesrundfahrt gewann, und der erste ausländische Giro-Sieger. Ein schlimmeres Ergebnis hätte man sich in Italien nicht vorstellen können — und niemand konnte leugnen, dass der Radsport in seinen Grundfesten erschüttert worden war. Die Schweizer hatten aus praktisch nichts ein extrem talentiertes Team geschmiedet, dessen bester Fahrer Koblet war. Mit diesem Mann musste man rechnen, und es war klar, dass er in Zukunft der gefährlichste Rivale Coppis sein würde, nicht mehr der bereits 35-jährige Bartali.

Koblet war sanftmütig und großzügig, und er gab gerne zu, dass Coppi seine Inspiration und sein Idol war. Als er einen dominanten Sieg bei der Tour de Suisse folgen ließ, blieben die Vergleiche nicht aus. Beide waren zurückhaltend und durch und durch anständig. In der Schweiz war man Spitzensportler nicht gewohnt, und einen Fahrer wie Koblet hatte es nie zuvor gegeben. Plötzlich stand ein Landsmann ganz oben, nicht wie üblich ein Italiener oder Franzose, und die ganze Bevölkerung gab sich Koblets Brillanz und seinem Filmstar-Charme hin.

Genau zu dieser Zeit erlebte die Zeitschriftenindustrie ein bis dahin ungekanntes Wachstum. Die durchschnittlichen Europäer hatten begonnen, sich für das Privatleben und die Affären bekannter Sportler zu interessieren, und kein Sportler war so bekannt und interessant wie Coppi und Koblet. Für die Welt des Radsport war diese neue Rivalität ein Geschenk des Himmels. Als feststand, dass die zwei Fahrer bei der Tour 1951 aufeinandertreffen würden, hielten Millionen von Radsportfans den Atem an.

Fünf Tage vor der Tour schrieb sich Fausto Coppis Bianchi-Team bei seinem Heimrennen ein. Coppi hatte – warum auch immer – noch nie die Piemont-Rundfahrt gewonnen, und bevor er die Alpen überquerte, wollte er das endlich erledigen. Als sich das Peloton in rasender Fahrt dem Ziel in Turin näherte, geriet Coppis Bruder Serse mit dem Laufrad in ein Straßenbahngleis. Er stürzte und schlug mit dem Kopf auf, konnte aber wieder aufs Rad steigen und das Rennen beenden. Doch zurück im Hotel begann er, über Kopfschmerzen zu klagen. Sein Tod später am Abend im Krankenhaus sollte Coppi bis ans Lebensende nicht mehr loslassen. Serse war die Stütze des Campionissimo gewesen, sein Hirn und sein Anker, und der Fausto, der in Metz an den Start ging, war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Auf einer Flachetappe nach Agen lieferte Koblet sein Meisterstück ab, indem er eine der außergewöhnlichsten Solofahrten in der Geschichte des Rennens absolvierte. Im satten Erdbeerrot der Schweizer Nationalmannschaft attackierte er ganze 138 Kilometer vor dem Ziel. Der Angriff ergab keinen Sinn, doch irgendwie konnte Koblet eine rasende Verfolgergruppe mit Italienern, Holländern, Franzosen und Belgiern auf Distanz halten und alleine ins Ziel fahren. Es schien fast unglaublich, doch der Schweizer hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Regeln des Radsports auf den Kopf zu stellen. Wo sich die Normalsterblichen des Pelotons im Glutofen des französischen Sommers die Seele aus dem Leib strampelten, war er die Verkörperung der Gelassenheit. Der Radsport galt als härteste aller Sportarten, doch irgendwie schaffte es Koblet, die Sache – nun ja – einfach aussehen zu lassen. Völlig demoralisiert brach Coppi auf einer Übergangsetappe nach Montpellier ein. Danach entwickelte sich das Rennen zu einer Art Prozession. Obwohl er für Fausto echtes Mitgefühl empfand, gönnte sich Hugo vier weitere Etappensiege und das Maillot Jaune mit 22 Minuten Vorsprung.

Ein Zeus auf dem Rennrad – oder ein Adonis, wenn man so will. Vor den Interviews im Ziel wusch er sich das Gesicht und – man glaubt es kaum – legte echtes Kölnisch Wasser auf. Dann kämmte er sich sorgsam das Haar, denn es sei höflich, meinte er, anständig auszusehen. Ganz Frankreich war verzückt, und (wer hätte es gedacht?) Frauen überall in Europa fingen an, sich ernsthaft für den Radsport zu interessieren. Ein französischer Journalist kam darauf, ihn den „Pédaleur de Charme“ zu nennen. Es hatte seinen Ursprung im Jargon des Radsports, und bis heute, 70 Jahre später, weiß jeder, wer gemeint ist.

Dass Koblet ein radsportliches Genie war, galt als unbestritten, und angesichts von Coppis Schwäche gewann er das Rennen quasi im Vorbeigehen. Der Kampf des Jahrhunderts war ausgeblieben, und auch im folgenden Jahr sollte es nicht dazu kommen. Koblet hatte sich beim Giro in Form gebracht, doch dann implodierte er bei einem Zeitfahren der Tour de Suisse, das er eigentlich hatte gewinnen sollen. Es geht das Gerücht um, dass die Bronchitis, die er sich eingefangen hatte, durch eine Injektion verschlimmert wurde, die ihm der Quacksalber des Schweizer Radsportverbandes verpasst hatte. Jedenfalls erholte er sich nicht rechtzeitig bis zur Tour — und in seiner Abwesenheit machte Coppi einmal mehr das Double klar. Fausto war majestätisch, doch der sportliche Wettkampf war zum Einschlafen.

Koblet war berühmt für seine Gefräßigkeit, und 1953 ließ es sich nicht mehr verbergen. Beim Start des Giro wog er drei Kilo zu viel, während Coppi bereits 33 Jahre alt war. Man muss sagen, dass beide ihren Zenith überschritten hatten, doch den anderen waren sie immer noch weit überlegen. Als Ausländer beim Giro stand Koblet vor einem gewichtigen Problem. Coppis Taschen waren so tief, dass es fürs ganze Peloton reichte; finanziell gesehen standen also 60 Italiener gegen einen Schweizer. Doch Coppi konnte ihn nicht distanzieren, und Koblet behielt das Maglia Rosa, als es in die letzte Dolomiten-Etappe ging. Angesichts der Umstände war seine Leistung heroisch, doch am Stelvio sollte sich alles ändern.

Im Vorfeld der Etappe hatten die zwei Fahrer einen Waffenstillstand verabredet: Sie wollten im Anstieg zusammenbleiben, und Koblet, der bessere Sprinter, sollte Coppi den Etappensieg überlassen und dafür seinen zweiten Gesamtsieg bekommen. Coppi wollte nämlich seine Geliebten Giulia Occhini im Ziel mit dem Siegerstrauß begrüßen. Doch auf der Straße war Coppis Renninstinkt dann doch zu stark. Er griff am Stelvio an — und der geschockte Koblet konnte nicht an seinem Hinterrad bleiben. Dann hatte der Schweizer in der Abfahrt auch noch einen Defekt und der Giro war verloren. Mehr noch als die Niederlage brach ihm der Verrat das Herz. Als ihm später ein lukrativer Vertrag für ein Bahnmeeting mit Coppi angeboten wurde, lehnte er glattweg ab. Nach den Gründen gefragt, sagte er nur: „Fragt Fausto.“

Es ist eine Anekdote mit Aussagekraft, deutet sie doch den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Fahrern an. Coppi war ein guter Mensch, aber auch das Urbild eines Berufsrennfahrers. Hugo, ob außergewöhnlich talentiert oder nicht, war im Vergleich dazu ein Amateur. Er fuhr Radrennen, weil er gut darin war und weil es ihm Freude machte, doch zu siegen war nicht lebenswichtig für ihn. Sich so zu verhalten war für ihn unvorstellbar, denn in seinen Augen waren Coppi und er Freunde. Schließlich war es nur ein Radrennen, und kein Radrennen war so viel wert.

Im folgenden Jahr verschenkte Koblet regelrecht den Giro. Er ließ zu, dass sein Freund und Domestike Carlo Clerici in einer Ausreißergruppe 30 Minuten herausfuhr. So wechselte Clerici vom roten Schweizer Trikot in das Maglia Rosa, die er bis zum Ziel in Mailand tragen sollte. Für Coppi und Bartali war dies ein Sakrileg, aber Coppi und Bartali waren nicht Hugo Koblet. Für ihn war es die natürlichste Sache der Welt, und er freute sich aus vollem Herzen über Clericis Sieg.

Von einem Radrennfahrer erwartete man einen asketischen Lebenswandel, doch Koblet reiste durch die Welt und war im Jet-Set zuhause. Er heiratete ein Mannequin aus großbürgerlicher Familie, flirtete mit einer Hollywood-Karriere und fuhr in einem riesigen amerikanischen Studebaker durch das biedere, puritanische Zürich. Er hörte John Coltrane und Dizzy Gillespie, entspannte in Davos und erfreute sich auch sonst seiner Popularität. Was das Geld anging, war er für einen Schweizer ungewöhnlich verschwenderisch. Er bewahrte sein Vermögen in einem Koffer auf, anstatt ein Konto zu eröffnen (jedenfalls so lange, bis alles bei einem Einbruch gestohlen wurde), und er konnte einfach nicht nein sagen. Wie zur Bestätigung geht das Gerücht, dass er sich auf einer hochkarätigen Reise nach Acapulco eine Geschlechtskrankheit zuzog. Ob es stimmt oder nicht: Sein Hang zu Exzessen wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Das Rennen des Jahrhunderts kam nie zustande, er erreichte nie wieder Paris und alles in allem war seine Karriere an seinem 30. Geburtstag vorbei.

Als er sich vom Sport zurückzog, hatte er alles Geld ausgegeben. Koblet übersiedelte nach Caracas, um in Venezuelas blühender Autoindustrie Karriere zu machen, wie es hieß – doch in Wirklichkeit steckte er wohl finanziell ernsthaft in der Klemme. Zwei Jahre später kam er ohne einen Pfennig und als gebrochener Mann nach hause. Der „Pédaleur de Charme“, war kahl, übergewichtig und depressiv. Von Schulden erdrückt, kinderlos und von seiner Frau verlassen, beging er mit 39 Jahren Selbstmord. Wie das Leben seines großen Idols Coppi endete auch das von Koblet unter tragischen Umständen – und beide gehören bis heute zu den geheimnisvollsten Champions in der Geschichte des Radsports.

In der Schweiz huldigt man Athleten im Allgemeinen nicht so sehr wie in Frankreich, und man verleiht Radsportlern sicherlich nicht so himmlische Attribute, wie es in Italien der Fall ist. Die Schweizer gelten als eher nüchtern, und Sport ist natürlich nur Sport. Selbst in seiner Heimat ist Hugo Koblet weitgehend vergessen, doch an seiner Größe – menschlich wie sportlich – besteht kein Zweifel. Für einige flüchtige Momente war er auf Augenhöhe mit Fausto Coppi, und Coppi war der größte Straßenrennfahrer aller Zeiten.

Immer wieder beschwören die Leute das goldene Zeitalter des Radsports, was natürlich höchst subjektiv ist. Doch es lässt sich nicht leugnen, dass Europa in den zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg völlig verrückt nach Radrennen war. Dies waren die fetten Jahre des Radsports, und für die Schweiz galt das ganz besonders. Das Land brachte eine goldene Generation hervor, als deren Superstar sich Hugo Koblet erwies.

Was war er für ein Fahrer, und was für eine Zeit war das!