Dies ist Justin Williams


Justin Williams ist US-amerikanischer Straßen- und Kriteriumsmeister der Amateure und einer der schnellsten Sprinter im Straßenradsport. Außerdem kommt er aus Los Angeles. Ein Mann, der auf dem Weg nach oben an jeder Biegung behindert wurde.

Also entschied er, die Dinge auf seine Weise zu machen.
Nach dem Rhythmus seines eigenen Herzschlags zu fahren.
Und er verändert den Sport.

Das ist seine Ecke.
Das ist sein Kriterium.
Das ist sein Radsport.

21. Juni 2019

„Leute, macht euch bereit, da kommt was auf euch zu“ – Curtis Mayfield

Es heißt, man wir durch Verletzungen stärker – aber man braucht schon eine bestimmte Mentalität, um wieder auf die Beine zu kommen. Justin Williams wurde so oft zu Boden geschlagen, dass er jetzt nahezu unverwüstlich ist. In seiner vielversprechenden Karriere in einer Sportart, die so sehr der Tradition verhaftet ist, wurden ihm immer wieder Chancen verwehrt. Und so beschloss der 30-jährige aus South Central Los Angeles, sein eigenes unabhängiges Rennteam zu gründen – Legion of Los Angeles. Mit den Sponsoren Rapha, Specialized und Shimano im Rücken ist er jetzt sein eigener Chef, und er schafft höchstpersönlich Abhilfe gegen die Ungleichheit des Sports.

„Legion“ ist ein Team talentierter Rennfahrer unterschiedlicher Ethnien und Herkunft, die nicht unbedingt in das Schema der offiziellen Programme und Pfade der Verbände passen. Es ist Justins Traum, diesen jungen Fahrern eine Plattform zu bieten, über die sie ihren eigenen Weg in den Sport finden. Und mit ihrem unaufhaltsamen Sprintzug und ihrer ansteckenden Energie räumen sie in der Kriteriums-Szene von LA ab.

Justin ist jedoch noch nicht ganz durch mit seinen eigenen Hoffnungen und Träumen im Radsport.

„Große Spieler machen große Spiele in großen Spielen. Los geht‘s.“ – Justin Williams

Tulsa Tough ist ein Festival-Wochenende für schnelle Zweiräder. Mit seiner Mischung aus hochexplosiven Rundkurs-Rennen und einer gehörigen Portion Partystimmung bringt das Omnium-Format die schnellsten Sprinter der amerikanischen Profi- und Amateurszene zusammen.

Justin hatte dort noch nie zuvor gewonnen. Dieses Jahr, es ist grade drei Wochen her, gewann er die ersten beiden der insgesamt drei Rennen gegen Fahrer aller Kategorien. Am ersten Tag, als das Tempo im Rennen nie unter 48 km/h fiel, war Justin in der letzten Kurve eingeklemmt, doch er schaffte es, sich herauszumanövrieren und vor den anderen den Zielstrich zu erreichen. Er riss die Arme ein bisschen zu früh hoch und wurde beinahe noch geschlagen.

Am zweiten Tag ließ er keine Zweifel aufkommen und fuhr genug Vorsprung heraus, um seinen Sieg gebührend zu feiern. Als der Sonntagabend kam und Justins junger Teamkamerad Sean McElroy den 2. Platz im hügligeren letzten Rennen belegt hatte, barsten die Legion-Boys vor Stolz und ließen es auf den Partys nach dem Rennen genauso krachen wie im Rennen.

„Kein Berg ist hoch genug
Kein Tal ist tief genug.“ – Marvin Gaye

Entschlossenheit kennzeichnet die Erziehung von Justin Williams. Als jüngster von 20 Cousins, die jeden Tag zusammen Football spielten, wurde Justin wegen seine Körpergröße nie verschont, und so wurde er auf dem rauen Spielfeld schnell erwachsen. Dazu hatte er echtes Talent, doch eine vielversprechende Karriere im Football wurde durch Verletzungen behindert und durch eine Mutter, die „nicht für dieses Leben war“, also beschloss Justin, einen anderen Weg zu finden.

„Ich wuchs in South Central Los Angeles auf, wo es nicht gerade tonnenweise Möglichkeiten gibt“, sagt er. „Ich glaube, dass laut Statistik jeder dritte männliche Schwarze irgendwann in seinem Leben im Gefängnis landet, also standen die Chancen schon mal gegen mich. Ich hatte davon schon früh eine klare Vorstellung und ich wollte nicht aufwachsen wie jeder andere. Radfahren war das perfekte Ventil für mich, aus dieser Blase auszubrechen.“

Justins Vater war ein starker Radrennfahrer, aber er machte vor seinem Sohn keinen Hehl daraus, wie schwierig Radfahren ist, indem er ihn nach 50 Meilen auf seiner allerersten Ausfahrt am Straßenrand stehen ließ, als er gerade 13 Jahre alt war. „Er sorgte dafür, dass mir von Anfang an klar war, dass das kein einfacher Sport ist!“ Aber Justin blieb dran, und, was wichtiger ist, es gab ein Vorbild, dem er folgen konnte: Rahsaan Bahati, ein Freund der Familie und einer der wenigen schwarzen Radprofis. „Dass ich in meiner Umgebung dieses Vorbild hatte, jemand, der diese großen Dinge tat und die Welt bereiste... Das war wirklich stark“, sagt Justin.

Justin zeigte beinahe sofort, dass er die perfekte Kombination aus flüssiger Radbeherrschung, Furchtlosigkeit und explosiven Beinen besaß, die man als Sprinter braucht. Als Teenager gewann er zahlreiche Rennen. Er setzte sich in den Kopf, dass die Aufnahme in das Programm des US-Nationalteams das einzige Ziel von Bedeutung war. Er träumte vom Sternenbanner und von Zielflaggen.

Als er sich trotz seiner Ergebnisse vom Verband USA Cycling ignoriert fühlte, erzwang er sich mit 17 Jahren die Zugehörigkeit zur Mannschaft, indem er einen nationalen Bahntitel (den ersten von dreien) gewann. „Sie wollten, dass ich mich auf die Bahn konzentriere“, erzählt er, „aber mein Herz schlug schon immer für die Straße, also gab es diesen echt verrückten Kampf in mir, weil ich diese wirklich coole Chance bekam, obwohl mein Herz woanders war. Am Ende entschied ich mich dafür, auf der Straße zu bleiben.“

Diese sture Entschlossenheit, zu erreichen, was er wollte, und sich nicht davon einschüchtern zu lassen, was andere von ihm erwarteten oder wollten, sollte zu einem Markenzeichen seiner ganzen Radsportkarriere werden. Ein lobenswerter Standpunkt in einem Sport, der unverrückbare Vorstellungen davon hat, was richtig und was falsch ist. Doch zeitweise machte es ihm das Leben schwer, wie Justin selbst zugibt.

„Ich schreibe Namen auf, ich mache eine Liste
Die Richtigen sterben, die Falschen leuchten.“
– J. Cole

Mittlerweile fuhr Justin Rennen mit seinem Mentor Bahati für Rock Racing, ein chaotisches US-Team, zu dem auch der alternde Tyler Hamilton sowie Mario Cipollini gehörten. Es war nicht gerade das ideale erste Profiteam für einen Teenager, und als sich Rock im Folgejahr unter Streitigkeiten auflöste – „das war wirklich hart für mich, ich wusste echt nicht, wie ich damit umgehen sollte“ –, hielt Justin seine Rennfahrerträume mit einem Platz in Axel Merckx’ Trek-Livestrong-Nachwuchsteam für 2010 am Leben.

Als Mitglied im selben Team wie die künftigen WorldTour-Stars Taylor Phinney, Alex Dowsett und Nate Brown – und auch als Rennfahrer des US-Nationalteams in Belgien – fuhr Justin beeindruckende Ergebnisse bei den Kermesses ein, schnellen Rennen für Profis und Amateure in Belgien, die aus Jungs Männer machen oder sie zerbrechen lassen.

„Nach einem Rennen sagte der Nationaltrainer zu mir: ‚Du kannst wirklich gut darin sein.‘ Ich dachte, ich wäre exzellent! Ich fuhr Roubaix U23 und half Taylor [Phinney] bei seinem Sieg. Es war krank! Ich flog heim und konnte endlich meine Freundin wiedersehen, und ich erinnere mich, wie das das Nationalteam meinte: ‚Hey Mann, wir fliegen dich wieder rüber nach Europa nächste Woche‘. Ich war grade eine Woche zu Hause, ich hatte keine Ahnung, dass das passieren würde. Ich sagte‚ ah, ich muss drüber nachdenken, ich habe all diese anderen Sachen zu erledigen. Am Ende ging ich nicht zurück nach Europa, und ich wurde nie wieder angerufen. Ich bin einfach irgendwie aus dem Radar gefallen.“

„Eine Schweigeminute für die Hasser.“ – Justin Williams

Und so begannen Justin Williams’ Jahre in der Wildnis:

„Es gab eine Phase der Verlorenheit. Ich schätze, ich hatte den Ruf, nicht gerade pflegeleicht zu sein. Ich wusste nicht, wo das herkam. Ich hatte eine Arroganz an mir, sicher, aber ich war gerade dabei, ein Sprinter zu werden, ich kämpfte um den Respekt dieser Rennfahrer, ich war ein junger Kerl. Es gibt auch diesen Irrglauben darüber, wie schwarze Männer sind, also begannen die Leute, mich als den ‚zornigen schwarzen Mann‘ zu sehen. Ich war 20, 21 Jahre alt und ich brauchte nur ein bisschen Führung.“

Mit dem Gefühl, dass niemand ihn wollte und sein Profiteam verschwunden war, schrieb sich Justin am College ein und besorgte sich Job und Wohnung. Er fuhr weiter Rennen, doch er wechselte von einem zweitklassigen Team zum nächsten, stritt sich in der kleinen Politik des inländischen Rennsports und verkrachte sich mit den Fahrern und dem Management. Doch alles änderte sich, als sein jüngerer Bruder Cory – selbst ein talentierter Sprinter – 2016 Profi beim US-Team Cylance wurde und seine neuen Chefs überzeugte, seinem großen Bruder ebenfalls einen Vertrag zu geben.

„Ich wollte das nicht mehr tun“, sagt Justin. „Aber der einzige Grund, warum ich ein weiteres Jahr auf dem Rad verbrachte, war der, dass es Corys erstes Profijahr war. I sagte ihm, dass ich sein Trainingspartner werden und ihm helfen würde. Ich war der Letzte, die in jenem Jahr beim Team unterschrieb, und dann gewann ich 16 Rennen.“

„Jede Erfolgsgeschichte ist eine Mär permanenter Anpassung, Prüfung und Veränderung.“ – Richard Branson

Neu belebt und wiederhergestellt als König des US-Kriteriumsrennen, nahm Justins Karriere wieder lautstark Fahrt auf. Aber als Cylance es versäumte, Cory 2017 erneut zu verpflichten, obwohl man es Justin versprochen hatte, war dies ein Verrat, der den Sprinter die hinterhältigen Machenschaften des Sports verfluchen ließ. Er war an einen Vertrag über ein weiteres Jahr gebunden.

„Ich musste also für Cylance fahren, und Geschäft ist Geschäft, also trat ich an. Ich dachte daran, das Jahr zu versauen, aber ich gewinne nicht für sie, ich gewinne für mich. Ich gewinne für meine Familie. Cory meinte, ich solle alles plattmachen, und ich hatte ein phänomenales Jahr, in dem ich 14 Rennen gewann. Aber das war es dann für mich. Ich hatte genug von den Leuten und dem Sport. Die gleiche Sch* ,die die Leute versuchen abzuziehen. Es nahm der Sache die Liebe und den Spaß, und es war erniedrigend, sich in einem derartigen Umfeld zu befinden. Ich weiß nicht, was auf WorldTour-Level passiert, aber in der amerikanischen Rennszene ziehen die Fahrer langfristig den Kürzeren.“

Viele Leute wollen sich beschweren über den Zustand des Sports, aber keiner will sch* nochmal etwas machen. Keiner will Position beziehen oder zum Problem werden. Aber mir ist es egal, wenn ich das Problem bin.“– Justin Williams

2018 stand vor der Tür, und Justin nahm die Sache selbst in die Hand. Er unterschrieb einen Vertrag bei Specialized, um für das Fixie-Superteam Specialized – Rocket Espresso bei den Red Hook Crits zu fahren. Er war eine Offenbarung. „Wir waren von Beginn an wie Brüder. Ich bin noch nie zu einem Team gekommen und habe so schnell diese Liebe gespürt. Das war etwas, das ich auf dem Level, auf dem ich war, vermisst hatte, wo alle wie Krabben in einem Fass waren: ‚Oh, du bist gut, aber du bist nicht so gut.‘ In Wahrheit ist es egal. Wenn du im Team bist, dann verdienst du es, hier zu sein. Du sollst mir helfen und ich helfe dir. Wir sollten einander lieben und diesen gegenseitigen Respekt haben.“

Der Deal mit Specialized gestattete Justin, als unabhängiger Fahrer Straßenrennen zu fahren, und es gelang ihm, ohne Teamkameraden die US-Amateurmeisterschaft auf der Straße und im Kriterium zu gewinnen. Sein Social-Media-Profil explodierte, teilweise dank der dort aktiven Fans des Red Hook Crit, und Justin hatte einen Geistesblitz: Warum nicht sein eigenes Team gründen? Eines, das jungen Fahrern das Umfeld bieten würde, nach dem er sich immer gesehnt hatte? Ein Team, das zusammen fahren und dessen Mitglieder sich gegenseitig lieben würden: Dies sollte die Legion of Los Angeles werden.

„Ich wollte mit anderen Typen, mit jüngeren Typen, das teilen, was ich bei Specialized – Rocket Espresso erlebt hatte. Mein Bruder machte dasselbe durch, das ich durchgemacht hatte. Also sagte ich: Das kann ich nicht ertragen. Viele Leute wollen sich beschweren über den Zustand des Sports, aber keiner will sch* nochmal etwas machen. Keiner will Position beziehen oder zum Problem werden. Mir ist es egal, wenn ich das Problem bin. Specialized waren für 2019 dabei, und die Partnerschaft mit Rapha war eine Riesensache. Und dann kam Shimano an Bord. Ehe ich mich’s also versah, hatte ich drei der größten Marken im Radsport hinter mir, die dieses Programm unterstützten, das es nie zuvor gegeben hatte. Wie stürzten uns in die Rennen.“

„Lass alles klappen.“
– Lil Wayne

Legion of Los Angeles ist das Größte, was im nordamerikanischen Radsport im letzten Jahrzehnt passiert ist. Sie starteten im grauen Outfit des Rapha Cycling Club in die Rennsaison und wechselten dann letzten Monat zu ihrem neuen Rapha-Custom-Design. Aber egal, welche Farben sie tragen – du kannst sie nicht verpassen, wenn sie antreten. Mit wilder, freundlicher Energie und Hip-Hop ist Legion einfach ansteckend. Tausende von Radfahrern schließen sich landesweit und darüber hinaus dem „Pride“ an, inspiriert von der positiven Wirkung von Williams’ Message. Das Team legt eine kämpferische und freche Rhetorik an den Tag, die ungewöhnlich im Rennsport ist, und das ist auf seltsame Weise liebenswert. Helmkamera-Videos mit der GoPro, die Cory nach jedem Rennen hochlädt hat, werden hunderttausendfach angeschaut. Mit Fans zusammenzutreffen kann Stunden dauern. Vielleicht sind die Rennen – bislang – klein, doch dafür menschelt es gewaltig.

Justin ist beides, Teammanager und Sprintstar, das ist eine Menge. Planungen und Arrangements zu machen bedeutet, Trainingstage zu verpassen, doch er sagt, bei seiner eigenen Radkarriere Opfer zu bringen werde mehr als zurückgezahlt durch den Gedanken, etwas aufzubauen, von dem er hofft, dass es noch existiert, wenn er nicht mehr da ist. „Mann, ich bin superglücklich. Legion wächst schneller als ich Pläne dafür machen kann. Ich habe das Gefühl, dass jeder im Team weiß, dass er eine Bestimmung hat und dass wir ihn zu schätzen wissen. Ich möchte, dass sie glücklich sind und diese einzigartige Erfahrung im Radsport machen, sodass sie, selbst wenn sie keine Radsportler auf Top-Niveau werden, diese wirklich große Nostalgie für den Sport empfinden, wenn sie ihre Karriere beenden. Das Wachsen des Menschen innerhalb des Programms zu sehen, das hat den gleichen Stellenwert für mich wie Siege. Ich liebe es immer noch, zu gewinnen, aber es gibt jetzt einfach noch mehr für mich im Leben.“

Das ist sein Radsport.