Informationsbeschaffung

Bei Straßenrennen waren Taschenspielertricks schon immer ebenso wichtig wie sportliche Heldentaten – das weiß Raphaël Geminiani nur zu gut. Anlässlich der neuesten Veröffentlichung von Rapha Editions verrät die Autorin Isabel Best einige von Geminianis Geheimnissen, die es nicht ins Buch geschafft haben.

Rapha Editions - Gathering Intelligence: The Racing Secrets of Raphael Geminiani. Road Cycling Book 2020

Gute Fahrer, so erzählt Raphaël Geminiani, müssen ihre Rivalen genau im Auge behalten. Das bedeutet nicht nur, zu wissen, wo im Peloton sie sind, sondern auch, jedes Detail ihrer Rennweise genau zu verfolgen: von ihren jeweiligen Eigenheiten bis hin zum Inhalt ihrer Taschen. Hier sind drei Geschichten darüber, wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein.

© Ste Johnson

Wie Geminiani Gino Bartali in den Bergen schlug
„1952 fuhr ich beim Giro für Bianchi, und Fausto [Coppi, Teamkapitän von Bianchi] hatte das Rosa Trikot. Bartali führte die Bergwertung an und die Leute jubelten nur ihm zu. Coppi konnte das nicht ertragen: Er gewann hier gerade den Giro, und die Menge jubelte nur Bartali zu. Am Col du Grand-Saint-Bernard griffen Coppi und ich an, aber 150 Meter vor dem Gipfel ließ uns Bartali stehen.“

„Coppi dachte: ,Scheiße, er wird das Bergtrikot gewinnen und jeder spricht mehr über ihn als über mich.‘

Ich meinte zu Fausto: ‚Was ist das für ein Col, der da vor uns liegt?‘
‚Das ist der Simplon.‘
‚Was erwartet einen da?‘
‚Oh Gott, am Anfang ist er wirklich hart.‘
‚Okay‘, sagte ich. ‚Pass auf, lass mich etwas versuchen.‘

„Und am Simplon, direkt ab dem Fuß des Berges, ging ich zum Angriff über: Bang! Ich habe das Peloton pulverisiert, und Bartali war unter den Pulverisierten. Am Gipfel des Simplon lag ich in Führung und Bartali war ungefähr auf Platz 25. Ich gewann den Bergpreis, Coppi wurde Zweiter und Bartali nur Dritter.“

„Am Abend fragte Coppi: ‚Wie hast du das geschafft? Warum hast du da attackiert?‘ ‚Ist dir nie aufgefallen, dass Bartali Schwierigkeiten hat, zu Beginn eines Anstiegs das Tempo zu halten, doch wenn er oben angekommen ist, ist er unschlagbar? Coppi meinte: ‚Es kam mir nie in den Sinn, dort unten anzugreifen. Daran habe ich nie gedacht.‘

Coppi war stets an der Spitze des Pelotons, aber mir fiel auf, dass Bartali die Berge immer von hinten anging und dass er zu Beginn der Anstiege Schwierigkeiten hatte. Er war immer am Keuchen. Er war Raucher, und sobald es die Straße anstieg, war er immer kurzatmig. Coppi, der immer vorne war, hatte das nie bemerkt. Aber ich.“

© Ste Johnson

Ferdi Küblers schicksalsträchtige Attacke
1955 bestritt Geminiani die Tour de France und fuhr an der Seite von Louison Bobet, der mit einem dritten Sieg in Folge Geschichte schreiben wollte.

„Vor dem Start [der Etappe] schaute ich mich um, um zu sehen, was los war: die Räder, was die Fahrer in ihre Trikottaschen steckten... Und mir fiel auf, dass Kübler extrem dünne, leichte Reifen aufgezogen hatte. Das bedeutete auch, dass er ein großes Risiko einging, plattzufahren, denn die Reifen, die wir damals verwendeten [mussten viel robuster sein] – man konnte die Laufräder nicht einfach während des Rennens tauschen. Wenn also jemand dünne Reifen aufzieht, ist das ein Zeichen, dass er etwas vorhat. Also ging ich zu Bobet.

‚Louison, pass auf, heute probiert Kübler etwas, er hat dünne Reifen aufgezogen.‘
‚Oh là là! Oh là là! Du passt auf ihn auf!‘
‚Naja, du bist derjenige, der die Tour gewinnen soll, vergiss das nicht.‘
‚Kümmere dich einfach um ihn!‘

Also behielt ich ihn im Auge, und alles verlief wie erwartet. Was heißt, dass Kübler lange vor dem Ventoux angreift – Peng! Bang! – und ich klemme mich an sein Hinterrad. Er geht den Ventoux wie im Rausch an. Und ich sage noch zu ihm:
‚Ferdi, Vorsicht: Der Ventoux ist nicht wie die anderen Berge.‘
Doch er entgegnet mir nur:
Auch Ferdi ist nicht wie die anderen Fahrer.‘

Aber nur vier oder fünf Kilometer später saß seine Mütze schon schief. Er hatte begonnen, Selbstgespräche auf Deutsch zu führen und fuhr im Zickzack über die Straße, so dass ich Schwierigkeiten hatte, vorbeizukommen. Louison kümmerte sich um [Charly] Gaul, und ich fuhr den Ventoux für Louison, um ihm einen Vorsprung vor den anderen zu verschaffen. Doch Ferdi wurde abgehängt. Er war einfach komplett leer. Sechs, sieben Kilometer vor dem Ziel ging er in eine Bar, um ein Bier zu trinken. Dann stieg er wieder auf sein Fahrrad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Also rannten ihm die Leute hinterher und riefen: ‚Ferdi! Nach Avignon geht‘s da lang!‘ Er wusste nicht mehr, wo er war. Als er sein Hotel erreichte, nahm er ein Bad und berief dann eine Pressekonferenz ein, in der er erklärte:
‚Meine Herren, Sie werden mich nicht mehr bei der Tour de France sehen. Ich gebe die Tour auf und ich werde sie nie wieder fahren.‘
Und er ist die Tour auch nie wieder gefahren.“

© Ste Johnson

Wie Coppi und Fiorenzo Magni Gems Giro stahlen
Probleme im Vorfeld zu erkennen, heißt natürlich nicht unbedingt, dass man viel dagegen tun kann.

Geminiani und Coppi waren Freunde, die sich gegenseitig sehr bewunderten und respektierten, doch sie waren häufiger Rivalen als Teamkollegen. Es war daher nur naheliegend, dass Coppi eine kleine italienische Intrige auf Kosten seines Freundes ausnutzte.

Im selben Jahr, in dem sich Kübler am Mont Ventoux selbst zerstörte, fuhr Geminiani beim Giro drei Tage im Trikot des Gesamtführenden. Obwohl er italienischer Herkunft war – seine Eltern waren in den 1920er Jahren nach Frankreich emigriert –, fuhr er 1955 für die französische Nationalmannschaft. Daher war er für die italienischen Fans kein würdiger Sieger.

„In Italien habe ich den Leuten Kinnhaken verpasst, weil sie [die italienischen Fahrer] zu sehr angeschoben haben. Ein paar Fahrer konnten an den Anstiegen fast die Beine hochnehmen. Und wir in unseren roten, weißen und blauen Trikots – wir mussten richtig in die Pedale treten.

„Einmal streuten sie die Straße auf einem Kilometer mit spitzen Steinen aus. Pierre Chany [leitender Radsportkorrespondent bei L’Équipe] zählte 95 Reifenpannen im Verlauf dieses einen Kilometers.“

Gems erste Vorahnungen, dass etwas im Gange war, kamen ihm noch vor dem Start der Etappe.

„Ich sagte zu Coppi: ‚Wieso fährst du mit solchen Reifen?‘
‚Ach, wir testen nur ein neues Modell…‘
„Sie hatten besonders dicke Reifen aufgezogen, und als der schlechte Streckenabschnitt erreicht war, gaben Coppi und Magni Vollgas. Und ich springe an ihre Hinterräder, aber keine 200 Meter später bekomme ich einen Platten. Hätte ich keine Reifenpanne gehabt, hätte ich den Giro gewonnen.“

RAINCOATS ARE FOR TOURISTS

Von den ungeteerten Straßen und endlosen Etappen der Nachkriegszeit bis zu den Klickpedalen und Scheibenrädern der 1980er Jahre: Die neueste Veröffentlichung von Rapha Editions, Raincoats are for Tourists, zeichnet das Leben und Wirken der lebenden Radsport-Legende Raphaël Geminiani nach.

Jetzt in Großbritannien und der EU erhältlich. Demnächst auch für Kunden in anderen Ländern verfügbar.

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